Gerhard Richter im Olaf Gulbransson Museum

Eine neue Dimension

Große Kunst im kleinen Museum – das Olaf Gulbransson Museum hat in der jüngeren Vergangenheit immer wieder für Überraschungen gesorgt. Fast hat man sich an die großen Namen am Tegernsee gewöhnt. Doch die aktuelle Kunstschau setzt wieder einmal neue Maßstäbe: Gerhard Richter am Tegernsee.

Text: Ute Watzl

Gerhard Richter 1966 im Düsseldorfer Atelier

Gerhard Richter 1966 bei der Arbeit im Düsseldorfer Atelier.
Foto: ©Gerhard Richter 2024 (03032024), Olbricht Collection, courtesy Gerhard Richter Archiv

Die Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) ist kaum wiederzuerkennen. Fast vollständig von grauer Farbe überdeckt, schimmert das Aufmacherfoto nur noch leicht rot durch, vom Artikel sind nur noch einzelne Satzfetzen lesbar. Doch in der linken oberen Ecke ist noch ein vollständiger Satz zu erkennen: „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“, steht da. Es ist der Slogan der FAZ, könnte aber auch der Untertitel der aktuellen Ausstellung im Olaf Gulbransson Museum sein: Gerhard Richter. Werke im Plural.

Die „FAZ-Übermalung“ von 2002 mag nicht zu den ikonischen Bildern des großen Malers gehören, aber der Satz bleibt im Kopf. Er bringt Richters Kunst auf den Punkt. Wie in der Pop Art der 1960er-Jahre üblich, übermalte, überschrieb oder überspachtelte auch Richter zu Beginn seiner Karriere alltägliche Motive. So oder mit viel Unschärfe wechselt Richter vom Gegenständlichen ins Abstrakte, verfremdet das ursprüngliche Motiv und macht es fast unkenntlich. Was bleibt, ist eine Ahnung des ursprünglichen Bildes. Richter zwingt den Betrachter zu einem zweiten Blick und lenkt ihn auf das, was sich dahinter verbirgt: ein Motiv, ein Gedanke, eine Geschichte oder eben „ein kluger Kopf“.

Überall Ikonen, die man schon mal irgendwo gesehen hat

Aber auch die Ikonen fehlen nicht. Man steht und staunt: Überall altbekannte Motive, die man irgendwo schon einmal gesehen hat, Postkartenberühmtheiten, längst ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Die „Kerze“, „Betty“ in rot-weißer Jacke, wie sie sich vom Betrachter wegdreht, „Lassie“ weichgezeichnet in schwarz-weiß, der Totenschädel und die abstrakten, farbexplosiven Gemälde, gerakelt und gespachtelt – man muss kein regelmäßiger Besucher von Kunstmuseen sein, um diesen Bildern schon einmal irgendwo begegnet zu sein. Denn es sind die Werke eines der wichtigsten zeitgenössischen Maler.

Vor diesen Bildern zu stehen, ist etwas Besonderes. Aber sie an diesem Ort zu sehen, ist die eigentliche Sensation. Denn Gerhard Richter vermutet man in einem Kunstmuseum in einer Metropole der Welt, nicht aber im kleinen Olaf Gulbransson Museum am Tegernsee, umgeben von oberbayerischer Voralpenidylle.

Gerhard Richter Gemälde grün blau rot

Ein typisches Gemälde von Gerhard Richter: Grün-Blau-Rot von 1993
Foto: ©Gerhard Richter 2024, Olbricht Collection, Foto: Christoph Fein

Für das Kunstmuseum am Tegernsee ist diese Ausstellung eine neue Dimension. Allein damit die Versicherungen mitspielen, musste das Museum aufwendige Vorkehrungen treffen und in die Sicherheit des Gebäudes investieren. 400.000 Euro wurden in den vergangenen Jahren dafür ausgegeben.

Doch unterm Strich hat es sich gelohnt: Die aktuelle Ausstellung mit Werken Gerhard Richters bringt sichtlich Leben ins Gulbransson Museum. „Mit über 8.000 Besuchern allein in den ersten zwei Monaten läuft Gerhard Richter noch besser als unsere Marc-Chagall-Ausstellung vor zwei Jahren“, sagt Michael Beck. „Es kommt vor allem viel jüngeres Publikum.“

Beck ist Vorsitzender der Olaf Gulbransson Gesellschaft. Dass diese Hochkaräter jetzt am Tegernsee zu sehen sind, ist wie schon bei den vorangegangenen Ausstellungen seinen wertvollen persönlichen Kontakten in die Sammlerwelt zu verdanken. In diesem Fall zu Thomas Olbricht, der diese Auswahl aus seiner umfangreichen Richter-Sammlung als Leihgabe für das Gulbransson Museum zusammengestellt hat.

Als Düsseldorfer Kunsthändler ist Michael Beck seit 40 Jahren mit dem Essener Sammler befreundet, den es immer mal wieder an den Tegernsee verschlägt, „um mich beim Wandern und Radfahren fit zu halten“, wie Olbricht erzählt. Dass Richters Kunst einmal in diesem Rahmen gezeigt wird, kann Olbricht durchaus begeistern: „So eine Ausstellung mit spezifischen Richter-Werken im ländlichen Raum ist etwas ganz Neues. Ich finde das sehr gut“, sagt er. Und nicht nur er – auch der 92-jährige Gerhard Richter selbst sei begeistert, lässt er wissen.

Ausstellungsansicht Gerhard Richter im Olaf Gulbransson Museum

Auch sein berühmtes Motiv der Kerze hat Gerhard Richter auf verschiedene Weise als Edition entfremdet.
Foto: ©Gerhard Richter 2024, Olbricht Collection, Foto: Andreas Leder

Eine einzigartige Sammlung

Sammler Thomas Olbricht, 76, ist promovierter Chemiker und Mediziner, war Universitätsprofessor in Essen und hatte dort auch eine Praxis. Er begann 1986, zeitgenössische Kunst zu sammeln, eröffnete 2010 den in Kunstkreisen beliebten Ausstellungsraum „me Collectors Room“ in Berlin und gründete die Stiftung Olbricht.

Seine Kunstsammlung geht weit über das Werk Gerhard Richters hinaus. Einzigartig ist seine Richter-Sammlung aber, weil sie in einem Punkt vollständig ist: Sie umfasst alle Editionen des Künstlers, das heißt, er besitzt von jedem Werk, das Gerhard Richter in unterschiedlichen Auflagen oder Serien geschaffen hat, mindestens ein Exemplar.

Was das bedeutet? „Dieser Teil unserer Sammlung umfasst derzeit 184 Editionen“, erklärt Olbricht. „Da es sich bei vielen dieser Editionen um ganze Serien handelt, beläuft sich die Gesamtzahl aller verschiedenen Editionen, die Richter jemals produziert hat, auf über 450 Werke.“ Sie alle sind in der Sammlung Olbricht vertreten, über 70 davon sind am Tegernsee zu sehen.

Zum Beispiel „Ema (Akt auf einer Treppe)“ von 1992, eine der ersten Editionen, die Thomas Olbricht Anfang der 1990er Jahre erwarb. Es zeigt Richters erste Frau, wie sie im fünften Monat schwanger die Treppe hinuntergeht. Damals als Akt fotografiert, malte Richter bereits 1966 ein Ölgemälde davon, das heute im Original im Museum Ludwig in Köln hängt. 1992 fertigte er eine Fotoedition mit zwölf Abzügen an. Eines davon hängt heute im Olaf Gulbransson Museum.

Alle Schaffensphasen sind zu sehen

Ähnlich verfuhr Richter mit seinen berühmten Gemälden wie Kerze, Lassie oder Schädel. Deshalb begegnet man am Tegernsee zwar den bekannten Motiven, aber
eben anders: Nicht in Gestalt der berühmten Ölgemälde im Original, sondern als Editionen davon oder als in Serie hergestellte Auflagen, die mitunter die Motive und Themen seiner Gemälde aufgreifen. Das ist das Überraschende an der Ausstellung, macht sie aber nicht weniger interessant. Denn wer Richters malerische Ikonen kennt, kann hier staunen über die mediale Vielfalt, die sein Werk zu bieten hat.

So ist eine Fotografie nicht einfach eine Fotografie. Hinter der Oberfläche der Bilder verbergen sich einzigartige gestalterische und auch handwerkliche Entstehungsgeschichten, Techniken, mit denen Richter seiner Zeit oft weit voraus war. Diese erstaunliche Experimentierfreude Richters bei der Arbeit am und mit dem Bild ist die eigentliche Entdeckung dieser Werkschau.

Thomas Olbricht und Michael Beck im Olaf Gulbransson Museum

Michael Beck, Sammlungskuratorin Sarah Sonderkamp und Sammler Thomas Olbricht mit dem Katalog zur Ausstellung.
Foto: ©OGG/Andreas Leder

34 Jahre hat es gedauert, bis Thomas Olbricht seine Sammlung der Richter-Editionen vervollständigt hat. Von manchen gab es weniger als zehn Exemplare. Je bekannter Gerhard Richter wurde, desto begehrter wurde seine Kunst und desto schwieriger war es, ein Exemplar zu ergattern.

Damit stieg aber auch der Wert von Olbrichts Sammlung. „Heute habe ich das Privileg, bei einer Neuerscheinung ein Exemplar direkt vom Künstler zu erwerben“, sagt er. „Es ist klar, dass man nicht alle Originale eines Künstlers, also Unikate wie zum Beispiel Gemälde, erwerben kann. Aber bei Editionen ist das durchaus möglich.“ Auf die Idee, es zu versuchen, kam Olbricht, weil er auch Briefmarken sammelt, und zwar nach Vollständigkeit. Das war dann auch seine Motivation für die Richter-Editionen.

Seine Auswahl für die Richter-Ausstellung am Tegernsee sollte möglichst alle Schaffensphasen abdecken und die Entwicklung im Werk dieses großen Künstlers nachzeichnen, von 1965 bis zu den jüngsten Arbeiten von 2023. Vor allem aber sollte die Werkschau die große Vielfalt bei Gerhard Richter sichtbar machen – seien es die verschiedenen Stilrichtungen von der abstrakten Malerei bis zur Konzeptkunst oder die unterschiedlichsten Techniken.

Und das ist gelungen. Wer die  Ausstellung verlässt und zum Tegernsee hinabspaziert, hat viel über Deutschlands größten lebenden Maler gelernt, zumindest das, was seine Kunst so besonders macht.

Für den überregionalen Ruf des kleinen Museums ist diese Ausstellung ein Glücksfall, schließlich spielt es mit ihr in einer ziemlich hohen Liga: Die Werkschau war bereits im Essener Museum Folkwang zu sehen, und ein Teil davon reist demnächst ins renommierte Museum Kunstpalast nach Düsseldorf. Michael Becks erklärtes Ziel, das Olaf Gulbransson Museum aus der Ecke des reinen Karikaturmuseums herauszuholen, dürfte damit endgültig erreicht sein und der neue Ruf des Hauses den Weg für weitere Ausstellungen dieses Kalibers ebnen. „Diese Ausstellung ist ein Quantensprung für das Museum“, freut sich Michael Beck.

Gerhard Richter. Werk im Plural
Olaf Gulbransson Museum, Tegernsee.

Zu sehen bis 28. Juli 2024. Eine Führung durch die
Ausstellung ist sehr zu empfehlen. Dabei erfährt man viel über Gerhard Richters Kunst und seine Biografie.

Die Schallplatte der Goldberg Variationen von Bach werden bei Richter zu Gemälden.
Foto: ©Gerhard Richter 2024, Olbricht Collection, Foto: Christoph Fein

Gerhard Richter

Der heute 92-jährige Gerhard Richter macht noch immer Kunst. Auch jüngste Werke von 2023 sind in der Ausstellung zu sehen.
Foto: ©Gerhard Richter 2024, Olbricht Collection, courtesy Gerhard Richter Archiv