Heimatgeschichte
Der rätselhafte Riese
Wer hier lebt oder Urlaub macht, der weiß das: Das Tegernseer Tal ist eine Region voller Tradition. Und jede Tradition hat ihre Geschichte(n). Ein paar davon wollen wir in den kommenden Ausgaben erzählen. Im Mittelpunkt: Menschen und Dinge, die viel erlebt haben – und deswegen viel über das Tal, seine Menschen und seine Geschichte erzählen.
Text: Tatjana Kerschbaumer
Das Skelett des Riesen vom Tegernsee neben dem eines für diese Zeit normal großen Menschen
Foto: Archiv
Seine erste und zu Lebzeiten einzige Reise nach München behielt Thomas Hasler nicht in guter Erinnerung. “Nackert musste ich sein, lauter Weißkittel um mich rum, die mich angepatscht haben”, soll er einem seiner Brüder nach der Rückkehr erzählt haben. Denn Hasler, ein Bauernsohn vom Grundner-Hof in Bad Wiessee, war nicht zum Flanieren “z’Minga” gefahren. Er war in der Anatomie gewesen, bei den “Weißkitteln”, wie er die Ärzte nannte. Hasler stellte sich dort als Patient vor – weil er groß war, zu groß. Um genau zu sein: Rund 70 Zentimeter größer als der Durchschnittsmann seiner Zeit.
Schon mit elf Jahren durfte Hasler nicht mehr zur Schule, weil er mit seinen 1,52 Meter nicht mehr in die Holzbank passte. Die Familie glaubte, Schuld an seinem enormen Wachstum sei ein Pferdetritt, den er zwei Jahre zuvor ins Gesicht bekommen hatte. Seit seinem neunten Jahr wurde der Bub größer und größer – und vereinsamte dadurch zunehmend. Sogar beim Kegeln war er bei den gleichaltrigen Burschen nicht mehr gern gesehen. Seine enorme Kraft zerschmetterte die hölzernen Figuren der Bahn; andere Quellen behaupten, er habe sie mit bloßer Hand zerdrücken können.
Außerdem war da das Aussehen. Je größer Hasler wurde, desto mehr verformte sich sein Schädel. Die Knochenwucherungen waren so schlimm, dass er sich kaum noch vom elterlichen Hof traute und dort die meiste Zeit im Stadel blieb. Die Umwelt nahm wenig Notiz von ihm – beinahe ungewöhnlich, denn damals wurden die meisten Menschen seiner Größe als Attraktion im Zirkus vorgeführt. Als Hasler sich schließlich doch nach München zur Untersuchung wagte, diagnostizierten die Ärzte Riesenwuchs. Nur woher der “Gigantismus” kam, wusste damals keiner so wirklich. Keines seiner sechs Geschwister zeigte ähnliche Symptome.
Heute weiß man, dass Hasler an einem gutartigen Tumor der Hirnanhangdrüse litt, der zu einer immensen Ausschüttung von Wachstumshormonen führte. Herausgefunden hat das eine Forschergruppe um Professor Andreas Nerlich, die Haslers Skelett seit den frühen Neunzigern wieder und wieder untersuchte. Und Nerlich samt Team fand noch mehr heraus: Aufgrund der Schädeldeformationen war Hasler vermutlich schwerhörig und auf dem linken Auge blind. Auch sein Geruchssinn war stark eingeschränkt, weil die Wucherungen den Nasenkanal verengten.
Vielleicht stimmte Hasler nur einer zweiten Untersuchung in München zu, weil es ihm immer schlechter ging. Am 28. Juni 1876 telegrafierte er an die Anatomie, dass er ein zweites Mal vorbeikommen würde. Doch nur einen Tag später plagte ihn übermäßiger Durst, er trank zwei Kübel Wasser, zuckte, hatte Krämpfe. Thomas Hasler starb im Alter von nur 25 Jahren. An seinem Todestag maß er 2,35 Meter und wog 155 Kilo.
Die Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass die Knochenwucherungen so auf sein Gehirn drückten, dass es versagte. Sein Leichnam wurde zu Forschungszwecken dann doch nach München überführt. Er wurde obduziert, sein Skelett präpariert und danach lange im Deutschen Medizinhistorischen Museum in Ingolstadt ausgestellt, bevor er immer wieder in München untersucht wurde. Heute könnte man Haslers Krankheit mit ziemlicher Sicherheit behandeln. Damals war sein Schicksal auch sein Todesurteil. Hätten die Wucherungen am Kopf nicht sein Gehirn zerstört, wäre er vermutlich sogar noch größer geworden. Seine Wachstumsfugen waren noch offen.
STECKBRIEF
Seeseiten, Winter 2017/2018.
Heimatgeschichten
erzählt von Tatjana Kerschbaumer
Kabarettist Stefan Otto
Der Kabarettist Stefan Otto kommt mit seinem Programm "Gmahde Wiesn" an den Tegernsee.